Der wohl bekannteste lebende Psychotherapeut der Welt war zu Gast bei den Alexianern in Köln: Otto F. Kernberg, Begründer psychoanalytischer Theorien zur Borderline-Persönlichkeitsstörung und narzisstischen Pathologie, berichtete in Köln über mehr als 65 Jahre Erfahrung in der Psychotherapie. Der 95-Jährige war im Rahmen des Alexianer Therapie-Forums nach Köln gekommen und gab an zwei Tagen Trainingsseminare. Das Forum wird organisiert vom früheren Chefarzt Dr. Manfred Lütz, der zugleich ein enger Freund Kernbergs ist und vor drei Jahren ein Dialogbuch mit ihm veröffentlicht hat.
Zum Vortrag über sein Leben im Dominikus-Brock-Haus am Alexianer-Krankenhaus waren über 260 Psychotherapeuten zum Teil auch von weit hergekommen. Kernberg wurde 1928 in Wien geboren, flüchtete mit seiner jüdischen Familie vor den Nazis 1939 nach Chile, wurde dort zum Psychoanalytiker ausgebildet und emigrierte 1961 in die USA, wo er ab 1976 an der Cornell University lehrte. Der Besuch Kernbergs bei den Alexianern in Köln passte in jeder Hinsicht: Als Orden haben sich die Alexianerbrüder seit Jahrhunderten um psychisch kranke Menschen gekümmert. Manfred Lütz wies darauf hin, dass sie schon lange vor der medizinischen Wissenschaft erkannten, dass diese Menschen unter Krankheiten litten und sich um sie kümmerten.
Die jungen Psychotherapeutinnen und –therapeuten waren sichtlich beeindruckt von dem Altmeister, der nach 60 Jahren in den USA ein perfektes Deutsch sprach. Kernberg sprach zum Thema „Nach 65 Jahren Psychotherapieerfahrung: Was ist das Wichtigste, was ich Psychotherapeuten mit auf den Weg geben möchte“ und erzählte dabei auch von Niederlagen als junger Arzt – Todesfällen und Selbstmorden von Patienten – und welche Lehren er daraus zog; er warnte in einer anschließenden Pressekonferenz aber auch vor gefährlichen Tendenzen in den westlichen Demokratien; mahnte, immer wieder Zusammengehörigkeitsgefühl und Liebe gegenüber Hass und Narzissmus zu stärken.
Er zog Parallelen zur Atmosphäre in den USA heute und der Stimmung in den 1930er Jahren in Deutschland und Österreich, die er als Zeitzeuge selbst erlebt hatte. „Die Frage ist, ob unsere Fähigkeit zur Liebe und zur Zusammengehörigkeit überwiegen und die negativen Tendenzen besiegen kann. Es ist unsere Aufgabe das zu stärken. Dabei hilft die Wissenschaft, Religion und die Zivilisation.“ Es sei unsere Aufgabe, die Demokratie und ihre Institutionen immer aufs Neue zu verteidigen. Eine Entwicklung hin zu einer Diktatur sei durchaus im Bereich des Möglichen.
Was einen guten Therapeuten ausmachte, wollten die Zuhörer wissen – und Kernberg legte mit einer ganzen Liste los: Ein guter Therapeut oder eine gute Therapeutin müsse die Probleme der Patienten „von Innen spüren“ und die Fähigkeit haben, sich inseinen Patienten hineinzuversetzen. Er oder sie müsse intelligent sein, kritisch, motiviert und bereit zu unabhängigem Denken, brauche emotionale Intelligenz, Toleranz gegenüber der eigenen Aggression, Resilienz gegenüber Entwertungen durch die Patienten und müsse in der Lage sein, die Komplexität von Menschen und Organisationen verstehen. Therapeuten sollten welterfahren aber nicht exzessiv misstrauisch sein, nicht rechthaberisch, aber sicher in den eigenen Anschauungen.
Schließlich erklärte Kernberg, der in den Pausen dutzende seiner Bücher für die Zuhörerinnen und Zuhörer signierte, sein Erfolgsrezept zum Glücklichsein: „Es gibt die drei Felder im Leben: Beruf und Arbeit, Liebe und Sex, Freundschaft und Familie. Es geht darum, auf eine Art zu leben, die uns auf allen drei Feldern zufriedenstellt. Konflikte gibt es dabei immer. Sie müssen fähig sein diese zu lösen. Dafür benötigen Sie allgemeine moralische Prinzipien, denen Sie folgen.“
Kernberg flog am Tag nach dem Vortrag zusammen mit seiner Frau zurück nach Maine, wo er seit Kurzem wohnt. Das Alexianer Therapie-Forum in Köln wird fortgesetzt. Am 15. November mit Dr. Renate Daniel aus Zürich und dem Thema „Alpträume in der Psychotherapie verstehen und bewältigen“.